Gewaltfreie Erziehung des Hundes: was heißt das?

Morpheus: “Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf, und glaubst an das was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus… Bedenke…! Alles was ich dir anbiete ist die Wahrheit, nicht mehr…”
(The Matrix, 1999)
Warum diesen Dialog eines Sciencefictionfilms aus dem Jahre 1999? Natürlich auch, weil es einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist. Aber hauptsächlich, weil es mir fast genauso erging mit dem Verzicht auf Gewalt in meiner Art des Umgangs mit Hunden. Was?? Fragen sich nun wahrscheinlich auch die, die den Film kennen. Nun, in dem Moment als ich mich entschloss die rote Pille zu nehmen, gab es kein Zurück mehr. Ich sah sehr klar die Verfehlungen und Irrtümer, denen ich reihenweise erlegen war, ich entlarvte mich und die eigenen lahmen Ausreden, ich schämte mich fürchterlich für das, was ich schon alles verkehrt gemacht hatte und erkannte, das ich nichts aber auch gar nichts über Hunde wusste. Bei mir war es ein Umdenkprozess und ich hatte nie das Pech auf die wirklich gefährlichen Menschen zu treffen oder ihnen zu folgen. Trotzdem, wenn es Menschen gab, die mich sehr beeinflusst haben in meiner Entwicklung, so ist das zum einen mein Vater, der trotz erfahrener Gewalt (oder gerade deswegen) diese niemals weitergegeben hat und Frau Dr. rer. nat. Ute Blaschke-Berthold, die mir in Bezug auf gewaltfreie, positive Verstärkung im Tiertraining mit Sicherheit die rote Pille verabreicht hat. Beiden bin ich sehr dankbar, auch wenn sie mein Leben dadurch nicht einfacher gemacht haben.

Zum Thema gewaltfreie Erziehung gibt es viel zu sagen. Ich habe mich das erste Mal eher unfreiwillig, im Philosophieunterricht damit auseinander gesetzt. Wir haben die großen Vordenker einer sanften Erziehung erörtert, im Besonderen natürlich Jean Jacques Rousseau, dessen Ansätze revolutionär waren und auch in Teilen Zugang fanden in den Grundsatzerklärungen der französischen Revolution. Bei vielen dieser Visionäre war der Blick hinter die eigene Fassade eher ernüchternd, so hatte gerade jener Rousseau fünf Kinder, die er alle in Waisenhäuser abschob und die massiv unter einem abwesenden und abweisenden Vater gelitten haben. Was macht es so schwierig gewaltfreie Erziehung nicht nur zu predigen und einzufordern, sondern auch tagtäglich zu leben? Für mich bedeutet es zunächst einmal eine Definition für “gewaltfrei” zu finden, wo fängt Gewalt an? Tatsächliche gibt es keine klaren, allgemeingültigen Definitionen zu dem Begriff “Gewalt”, er wird fluktuativ und äußerst überfrachtet in tausenderlei Hinsicht genutzt. Die Definition liegt dann eher bei der subjektiven Intention des Texters oder bleibt der Interpretation des jeweiligen Lesers überlassen. Also bin ich schon an der ersten Klippe gescheitert, aber immerhin habe ich nicht aufgegeben. Meine Fragestellung was ist Gewalt und wo fängt sie an, hatte einen sehr realen, überschaubaren Bezug, nämlich meinen Beruf als Trainer für Menschen mit Hunden und als Erziehungsberechtigte eines Sohnes und mehrerer Fellkinder. In Bezug auf diese Lebensbereiche, fängt für mich Gewalt genau da an, wo ich über verschiedene Formen von Druck bestimmte Verhaltensweisen meines Gegenübers unterdrücken, ändern oder verstärken möchte. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich dafür körperliche, finanzielle oder geistige Überlegenheit in die Waagschale werfe, um mein Ziel zu erreichen. Ich übe genau dann Gewalt aus, wenn ich allein meine Bedürfnisse befriedige, ohne mein Gegenüber als gleichwertiges, ernstzunehmendes Individuum wahrzunehmen. Gebe ich mich mit dieser Definition zufrieden, stehe ich direkt vor dem nächsten Problem – ich muss mich sehr genau mit meinem Gegenüber auseinander setzen, um zu erkennen, wo liegen seine Bedürfnisse, wo seine Grenzen? Wie kann ich Lernerfolge erzielen, Grenzen ziehen oder ein friedliches Zusammenleben erreichen, wenn ich auf Unterdrückung von unerwünschten Verhaltensweisen über Gewalt verzichte?

Wahrscheinlich ist genau dies der Punkt, der gewaltfreie Erziehung so schwierig umsetzbar macht – es macht Mühe, es verlangt Kreativität, große Zuneigung, ständige Selbstreflektion, Geduld, Zeit und Empathie. Für mich gibt es an dieser Stelle keine Alternative, es ist eine Lebenseinstellung und eine Sehnsucht, ich bin auch nicht am Ziel, ich bin eher immer auf der Suche. Ich freue mich über Jeden, der sich mit auf den Weg macht und trotzdem seinen eigenen Weg finden muss. In meinem Leben als Trainer für Menschen mit Hunden, bedeutet das für mich; – täglich neu dazu zu lernen, – die Quellen meines Lernens, Lehrens und Wissens auf ihre wissenschaftliche Nachweisbarkeit zu überprüfen, – Menschen abzuholen, dort wo sie stehen, ohne zu missionieren oder Schuldfragen zu debattieren, – gegen Gewalt vorzugehen und Zivilcourage zu zeigen. In meinem Leben als Mama eines fast 13-jährigen Sohnes und dreier Fellnasen, bedeutet es für mich, jeden Tag an meine Grenzen zu stoßen und auch zwischendurch mal zu verzweifeln, an mir, meinem Verstand oder beidem. Wenn mein Temperament in schönster Verbrüderung mit meinem absoluten Dickkopf mal wieder droht auf mein lebendig gewordenes Abbild zu prallen, versuche ich heute tapfer aus dem fahrenden Rammbock auszusteigen, indem ich mich, angekündigt, aus der Situation nehme. Das gelingt nicht immer, vor allem wenn die Testosteronspitzen meines Sohnes auf meine temporär komplett entleerten Östrogentanks treffen. Aber genau wie ich es gerne von meinen Kunden verlange – wenn man eine potentielle Konfliktsituation vorher erkennt, kann man sie rechtzeitig umlaufen und aus der notwendigen Distanz heraus bearbeiten. Das Leben und Lehren größtenteils über positive Verstärkung zu gestalten, ist eine Herausforderung und macht es spannend und bunt.