Die Ausziehleine – Teufelszeug oder genialer Alltagshelfer?
Wenige Hilfsmittel im täglichen Umgang mit dem Hund werden so ambivalent gesehen wie die allseits bekannte Ausziehleine. Während sie für manche Hundebesitzer:in genauso zu jedem Gassigang dazugehört wie der Hund, lehnen andere sie als vollkommen ungeeignetes, gar gefährliches Werkzeug ab. Doch warum spaltet die Ausziehleine die Hundehalter:innen-Nation derartig?
Die Vorteile der Ausziehleine liegen auf der Hand: Kann oder darf ein Hund in einer bestimmten Situation nicht ohne Leine laufen, so ermöglicht ihm die Ausziehleine je nach Modell einen Bewegungsradius von 3-8 m um seinen Menschen herum. Bei Bedarf kann die Länge der Leine durch den Feststellknopf begrenzt werden. Durch den praktischen Mechanismus rollt die Leine sich selbständig auf und ab, so dass sie nie am Boden schleift und die Gefahr des Verhedderns für Mensch und Hund deutlich geringer ist als bei einer Schleppleine der gleichen Länge. Im Gegensatz zu einer Schleppleine, die auch bei sorgfältigem Handling immer wieder Bodenkontakt hat und damit staubig oder schmutzig wird, behält der Mensch also saubere Hände und Hosen und muss sich nicht auf das Aufnehmen und Nachgeben der Leine konzentrieren. Wirklich praktisch!
Doch was sagen die Ausziehleinen-Gegner:innen?
Sie haben eine auf den ersten Blick erdrückend wirkende Flut von Argumenten GEGEN den Gebrauch von Ausziehleinen. Sehen wir uns die häufigsten Argumente einmal an:
- VERLETZUNGSGEFAHR:
Gerade die Ausziehleinen-Modelle für kleinere Hunde bestehen häufig aus einer sehr dünnen Kordel. Wickelt sich diese um nackte Menschen- oder Hundebeine oder greift der Mensch in die Leine, um den Hund zu halten oder zurückzuziehen, können schmerzhafte Brandwunden entstehen. Die Modelle für größere Hunde bestehen meist aus etwas breiterem Gurtband, bei dem die Verletzungsgefahr nicht ganz so hoch, aber immer noch vorhanden ist.
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GERÄUSCH BEIM HERUNTERFALLEN/HINTERHERSCHLEIFEN:
Fällt dem Menschen das Gehäuse der Ausziehleine versehentlich aus der Hand, so macht dieses (gerade auf Asphaltboden) ein lautes Geräusch und bewegt sich dann auch noch, getrieben durch den Aufrollmechanismus, auf den Hund zu. Gerade ängstliche oder geräuschempfindliche Hunde können sich dadurch sehr erschrecken. Versuchen sie, sich dem Geräusch durch Flucht zu entziehen, werden sie durch den schepperndes Kasten verfolgt und können schnell in Panik geraten und weglaufen. Ein echtes Albtraum-Szenario!
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ABRUPTES ABSTOPPEN UND HERANANGELN DES HUNDES:
Oft sieht man, dass Hunde durch das plötzliche Drücken des Stopp-Knopfs unsanft und ohne Vorwarnung von ihren Halter:innen ausgebremst werden und dadurch einen ordentlichen Leinenruck abbekommen. Um das ganze noch zu toppen, wird der Hund dann in vielen Fällen durch energisches Vorschwenken des Arms bei gelöstem Stopp, anschließendem Drücken des Knopfs und ruckartiges Zurückziehen mit der Ausziehleine quasi “herangeangelt”. Selbst in einem Produktvideo der Firma Flexi (wohl die bekannteste Ausziehleinen-Marke) wird das Heranholen des Hundes mit folgenden Worten beschrieben: “Um den Hund zu sich heranzuziehen, drücken Sie die Bremstaste mit dem Daumen herunter und ziehen Sie den Arm mit der Leine nach hinten. Wenn Sie die Bremstaste loslassen und den Arm nach vorne schwingen, rollt die Leine automatisch wieder ein.” (https://youtu.be/LBkoGunwEKI) Dass dieses Vorgehen für den Hund am Ende der Ausziehleine äußerst unangenehm sein kann, versteht sich von selbst. Zu allem Überfluss werden gerade Kleinsthunde an Ausziehleinen nach dem Heranangeln oft mit festgestelltem Stopp-Knopf an der Leine in die Luft gehoben – teilweise als Strafe bei unerwünschtem Verhalten wie Bellen, oder auch, um sie ohne lästiges Bücken auf den Besitzer:innenarm zu befördern.
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GEFAHR DURCH LANGE AUSZIEHLEINE AN DER STRASSE:
Viele Hundehalter:innen bedenken nicht, dass ein Hund, der an der ausgefahrenen Ausziehleine vor seiner Besitzer:in läuft, in einer plötzlichen Seitwärtsbewegung den vollen Leinenradius nutzen und damit unvermittelt auf die Straße laufen kann. Dies kann sowohl für den Hund, der bei einem solchen Manöver überfahren werden kann, als auch für Radfahrer:innen, die durch die Leine zu Fall gebracht werden können, extrem gefährlich sein!
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PERMANENTER ZUG VERHINDERT LEINENFÜHRIGKEIT:
Ein weit verbreitetes Argument gegen die Benutzung von Ausziehleinen ist, dass der Hund zum Verlängern der Leine permanent gegen einen leichten Zug anarbeiten muss. Damit lerne der Hund, dass er an der Leine ziehen müsse, um vorwärtszukommen. Leinenführigkeit wäre damit absolut ausgeschlossen, da das Ziehen an der Leine immer wieder belohnt werde.
So viel zu den häufigsten Argumenten gegen die verbreiteten Ausziehleinen. Doch sind diese Argumente alle so eindeutig und unwiderlegbar, wie sie häufig präsentiert werden? Und gelten sie tatsächlich ausschließlich für Ausziehleinen?
Natürlich ist das Optimum für Hunde beim Spaziergang Freilauf. Im Freilauf gibt es keine Verletzungsgefahr durch die Leine, der Hund kann sich nicht vor einem fallenden Kasten erschrecken, er kann nicht unsanft gestoppt werden und verspürt keinen permanenten Zug. Doch Freilauf ist aus den unterschiedlichsten Gründen nicht für jeden Hund und schon gar nicht in jeder Situation möglich. Also brauchen wir oft eine Leine. Dabei kommen neben der hier thematisierten Ausziehleine Führ- und Schleppleinen in Frage. Führleinen sind im Handling sicher deutlich einfacher und risikoärmer als Ausziehleinen, bieten dem Hund aber auch erheblich weniger Bewegungsfreiheit. Längere Schleppleinen verheddern sich schnell in Beinen, Bäumen und Büschen, wenn die Person, die die Leine hält, nicht permanent aufmerksam ist, und sorgen in vielen Fällen dafür, dass die beim Spaziergang getragene Hose wegen deutlicher Verschmutzung anschließend nicht mehr stadttauglich ist.
Ist die Verwendung von Ausziehleinen nicht doch unter bestimmten Umständen tolerierbar?
Sehen wir uns die einzelnen Argumente gegen ihre Verwendung noch einmal genauer an und überdenken auch die möglichen Alternativen:
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VERLETZUNGSGEFAHR:
Ja, die dünne Kordel einer Ausziehleine kann schmerzhafte Verbrennungen hervorrufen, wie ich bereits am eigenen Leib erfahren durfte. Doch auch Schleppleinen können beim Rutschen durch die Hände oder wenn sie sich um die Beine wickeln ernsthafte Verletzungen hervorrufen. Wie immer gilt: Eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Doch durch die Verwendung von Ausziehleinen mit Gurtband statt Kordel und ein achtsames und vorausschauendes Handling kann die Verletzungsgefahr minimiert werden.
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GERÄUSCH BEIM HERUNTERFALLEN/HINTERHERSCHLEIFEN:
Fällt die Entscheidung bei einem ängstlichen oder geräuschempfindlichen Hund auf eine Ausziehleine, so kann diese mit einem um das Handgelenk getragene Band so befestigt werden, dass sie selbst beim Loslassen nicht auf den Boden fallen kann. Alternativ kann das Geräusch der fallenden Leine gegenkonditioniert und somit zur Ankündigung einer Belohnung werden. Mir selbst passiert es im Alltag in entspannten Situationen durchaus ab und zu, dass mir eine Leine hinunterfällt (unabhängig von der Art der Leine). Meine Hunde freuen sich jedes Mal darüber, denn das Fallen der Leine kündigt einen Keks an!
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ABRUPTES ABSTOPPEN UND HERANANGELN DES HUNDES:
Das unangekündigte Stoppen des Hundes durch die Leine sowie ein Heranziehen mit der Leine ist unangenehm für den Hund, egal welche Leinenart verwendet wird, und sollte (außer in absoluten Notfallsituationen) nicht vorkommen. Kleinhunde an der Leine gar in die Luft zu heben ist selbstverständlich ein absolutes No Go! Jede Art von Leine sollte als Sicherungsmaßnahme gesehen werden, aber nicht die Kommunikation mit dem Hund ersetzen. Auch wenn der Hund angeleint ist, sollte er mit Signalen zum Stoppen und/oder Herankommen animiert werden. Sind diese Signale noch nicht ausreichend trainiert, so sollte ein Abstoppen des Hundes durch die Leine immer angekündigt und der Hund dann sanft ausgebremst und nicht abrupt gestoppt werden. Hier liegt der Fehler also nicht an der Ausziehleine an sich, sondern am ungeeigneten Handling!
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GEFAHR DURCH LANGE AUSZIEHLEINE AN DER STRASSE:
Auch dieses Argument trifft nicht nur auf Ausziehleinen, sondern auf alle längeren Leinen zu. An Straßen muss die Leine so kurz gehalten werden, dass der Hund auch durch eine plötzliche Bewegung nicht Gefahr läuft, in den Verkehr zu geraten. Dies kann durch Kurznehmen der Führ- oder Schleppleine oder eben durch Feststellen der Ausziehleine erreicht werden. Umsicht und vorausschauendes Führen des Hundes sind immer notwendig, egal welches Equipment verwendet wird.
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PERMANENTER ZUG VERHINDERT LEINENFÜHRIGKEIT:
Wer schon mal eine Ausziehleine in der Hand hatte, weiß, wie leichtgängig der Abrollmechanismus ist. Der Zug, der dabei entsteht, wenn der Hund an einer Ausziehleine läuft, ist keinesfalls vergleichbar mit einem Hund, der an der Leine zieht. Meine eigenen Hunde sind an der Ausziehleine ebenso leinenführig wie an jeder anderen Leine auch. Sie kennen außerdem den Radius unserer Ausziehleinen und werden selbständig zum Ende hin langsamer, so dass sie so gut wie nie das Leinenende erreichen. Übrigens kenne auch ich den Radius genau: Bleibt einer der Hunde zum Schnüffeln stehen, kann ich ohne hinzusehen weiter laufen und weiß genau, wann ich stehen bleiben muss, um nicht das Ende der Leine zu erreichen und dem Hund einen unbeabsichtigten Ruck zu verpassen. Leinenführigkeit ist nämlich keinesfalls nur einseitig!
MEIN FAZIT:
Aus meiner Sicht gibt es tatsächlich viele gute Argumente FÜR die Verwendung von Ausziehleinen in bestimmten Situationen.
Seit ich nicht mehr mitten in Berlin, sondern im ländlichen Umland wohne, sind die Ausziehleinen unsere meistgenutzten Leinen. Wenn wir das Haus verlassen, besteht auf den ersten 500 m eine hohe Wahrscheinlichkeit, Wild zu begegnen. Auch wenn die Hunde in diesen Situationen gut ansprechbar sind, behalte ich sie auf dieser Strecke sicherheitshalber an der Leine. Die Ausziehleinen ermöglichen es beiden Hunden bereits auf diesem ersten Stück, sich zu bewegen und zu schnüffeln, ohne sich die ganze Zeit meinem Tempo anpassen zu müssen, und ich muss mich nicht so sehr auf das Handling zweier Leinen konzentrieren, wie ich es mit Schleppleinen müsste. Nach ca. 500 m leine ich die Hunde ab und leine sie üblicherweise nur noch kurz zum Überqueren einer Straße wieder an.
Für den Alltag mit meinen gut trainierten Hunden ist die Ausziehleine für mich in vielen Situationen also absolut praktisch. Allerdings sollte sie, ebenso wie Schleppleinen, ausschließlich am Geschirr und nicht am Halsband verwendet werden, um im Falle eines versehentlichen Rucks möglichst wenig Schaden anzurichten.
Für Situationen, in denen Training im Vordergrund steht, empfehle und verwende ich keine Ausziehleinen, da der Kasten in der Hand sperrig und unpraktisch und die Ausziehleine mir zu unflexibel ist – anders als eine Führ- oder Schleppleine kann man sie nicht bei Bedarf schleifen lassen oder schnell kürzer fassen.
Wie fast immer gilt also: Das Werkzeug an sich hat Vor- und Nachteile, und ob es gut oder schlecht ist, hängt immer von der Situation und der Person ab, die es verwendet!