Der gelassene Hund, Buch von Gülay Ücüncü
SELBSTBEHERRSCHUNG, IMPULSKONTROLLE, FRUSTRATIONSTOLERANZ
Auf dieses Buch habe ich mich wirklich gefreut. Das Thema betrifft nämlich nicht nur eine meiner beiden Hündinnen oder Hunde in meinem Umkreis, sondern begegnet mir häufig in meiner täglichen Arbeit als Hundeerzieherin und Verhaltensberaterin.
Ich persönlich blättere immer noch gern in einem Buch. Und so war es wohltuend, diese gebundene Ausgabe in gut leserlicher Schrift und Schriftgröße in Händen zu halten.
In drei großen Kapiteln widmet sich die Hundetrainerin dem Hintergrund und der Entstehung von Problemen im Bereich der Selbstbeherrschung. Für sie war es wichtig, zunächst die verwendeten Begriffe zu definieren und zu erklären. So hat sich beispielsweise der Begriff der „Impulskontrolle“ im allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgert, wenn es um Hunde geht, die nie zur Ruhe zu kommen scheinen. Die Autorin sieht das aber als Bestandteil der Selbstbeherrschung, die noch so viel mehr umfasst. Denn zu einer guten Selbstbeherrschung gehört zum Beispiel auch eine gewisse Frustrationstoleranz.
Gleich zu Beginn des Buches äußert sich Dr. Dorit Urd Feddersen-Petersen (Ethologin und Fachtierärztin für Verhalten und Tierschutz, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) in einem Text „Zum Geleit“. Im Prinzip fasst sie in diesem Text bereits zusammen, worum es in diesem Buch geht:
„…beschreibt ein freundschaftliches Zusammenleben zwischen Mensch und Hund auf das Feinste, als vertrauensvolles Miteinander auf Gegenseitigkeit, das für den Hund Sicherheit bedeutet… kooperativ ist und intuitives Verstehen fördert…. Ein ganz wichtiges Buch zum Verständnis der Beziehung zum Hund in unserer nicht selten widersprüchlichen Zeit….“
Die Autorin war bei der Recherche absolut gründlich. So ist dieses Buch weniger als Leitfaden mit Anleitung zur Beseitigung von Problemen zu sehen, sondern vielmehr eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Prozessen, die zu mangelnder Selbstbeherrschung führen. Der rückseitige Umschlagtext lässt jedoch etwas anderes vermuten, ist hier doch die Rede von einem Navigationssystem für mehr Gelassenheit und echte Verbundenheit zwischen Mensch und Hund.
Das Buch umfasst insgesamt fünf Kapitel mit einer Vielzahl von Unterkapiteln, was ein schnelleres Wiederfinden bestimmter Textpassagen und Themen erleichtert. Im ersten Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit der Entwicklung des Zusammenlebens von Mensch und Hund. So zeichnet sie ein deutliches Bild vom Hund in unserer heutigen Gesellschaft und führt uns den Spiegel vor Augen. Wir stehen selber häufig unter Druck und setzen auch unseren Hund unter Druck. Was der Hund von uns braucht, sind Struktur und Verlässlichkeit, Orientierung, Sicherheit, Zuneigung und Vertrauen. Der Hund von heute hat einen völlig anderen Stellenwert, als noch vor wenigen Jahrzehnten und muss sich den Anforderungen und Herausforderungen stellen, um mit uns Schritt zu halten. Unsere Ansprüche an den Hund sind vielfältig und bedeuten nicht selten Stress. Zu einer starken Bindung kann es nur kommen, wenn der Mensch klar und eindeutig ist und der Hund ihm Aufmerksamkeit und Vertrauen schenkt. Das setzt eine gewisse Führungskompetenz beim Menschen voraus, die dieser mit der Zeit erlernen kann. Wichtig sind persönliche Grenzen und Regeln im Zusammenleben, damit der Hund sich in einem vorgegebenen Rahmen entwickeln kann. Selbstbeherrschung ist Teil der Erziehung und sollte so früh wie möglich erlernt werden. Dazu gehört eine freiwillige und selbstbestimmte Selbstregulierung und eine gute Frustrationstoleranz, ein „Belohnungsaufschub“.
Kapitel 2 und 3 sind die umfangreichsten und befassen sich mit rein wissenschaftlichem Hintergrundwissen. So lernt der Leser auf rund 190 Seiten sämtliche Gehirnfunktionen und -bereiche kennen, ebenso die Funktion der Schilddrüse und der Nebennierenrinde. So erfährt der Leser etwa, was Neurotransmitter, Botenstoffe und Hormone sind. Welche Aufgaben in welchen Hirnregionen verarbeitet werden und was Synapsen sind. Dass im Körper Botenstoffe benötigt werden und wo sie ausgeschüttet werden. Und welche Transmittersysteme bei welchen Situationen aktiv sind. Das alles wird hier zwar recht ausführlich, aber auch verständlich und in kompakter Form erklärt.
Wenn man es geschafft hat, die in diesen beiden Kapiteln beschriebenen Vorgänge im Körper eines Hundes zu verstehen und kennt nun die Zusammenhänge von bewusstem und unbewusstem Verhalten, erlangt man die Erkenntnis, dass man dem Hund keine Böswilligkeit vorwerfen kann. Selbst dann nicht, wenn es um das Thema Aggression geht, was in erster Linie und im eigentlichen Wortsinn nichts anderes als „sich annähern/ heranschreiten“ bedeutet und häufig falsch interpretiert wird. Aggression ist für ein Individuum ein notwendiges Verhalten und „Ein Individuum ändert sein Verhalten, wenn es einen Vorteil darin sieht.“, heißt es im Buch. Und das ist auch der Ansatz, wenn es darum geht, eine Verhaltensveränderung herbeizuführen. Jetzt wo der Leser weiß, was alles im Hund passiert, wenn die Außenwelt mit all ihren Reizen auf ihn wirkt, besteht eine reelle Chance, am Verhalten zu arbeiten, eine bessere Frustrationstoleranz zu erreichen und Stress zu reduzieren.
Jagdverhalten gehört übrigens auch zum Thema. Hier tickt jeder Hund anders und häufig stehen die Selbstbeherrschung und das selbstbelohnende Jagdverhalten in starker Konkurrenz zueinander. Eine Beeinflussung des bereits hetzenden Hundes durch den Menschen ist sehr schwierig. Daher sollte der Mensch, sofern er kein Jäger ist und einen Hund jagdlich führen möchte, von vornherein für eine solide Grunderziehung und Selbstbeherrschung sorgen, jagdförderndes Spiel und Tun vermeiden und somit eine gute Voraussetzung für den Abbruch des Jagdverhaltens schaffen. Verzichtet der Hund auf das Jagen, kann das auch eine Art der Befriedigung darstellen, sofern er Gelassenheit als angenehm zu empfinden gelernt hat.
Die Ernährung, Krankheiten, Traumata und Erfahrungen in frühem Alter des Hundes spielen ebenso eine Rolle bei der Selbstbeherrschung, wie Auslastung und der Umgang mit Stress. Denn langanhaltender, nicht kontrollierbarer Stress führt zu einer Überlastung des Systems mit negativen Auswirkungen auf den Organismus und damit auch auf die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Stress unterliegt immer der subjektiven Bewertung. Hier ist der Leser eingeladen, sich selber den Spiegel vorzuhalten und sich auch in seinen Hund hineinzuversetzen, womit wir fast am Ende des Kapitels 3 angelangt sind und uns hier mit uns und unserem Hund beschäftigen. Es geht darum, sich im eigenen Denken und Tun zu betrachten, die Anforderungen zu überprüfen.
In Kapitel 4 erzählt die Autorin von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Thema und lädt den Leser ein, sich noch einmal über die Beziehung zum eigenen Hund Gedanken zu machen.
Kapitel 5 schließlich enthält eine Danksagung, umfangreiche Quellenangaben sowie weiterführende Literatur zu den unterschiedlichen Bereichen.
MEIN FAZIT:
In diesem Buch findet sich keine Anleitung, wie man den Hund richtig erzieht oder wie man selbst sein Verhalten verändern kann, damit das Zusammenleben mit dem Hund harmonischer und die Bindung besser wird. Aber es bestätigt mein Bauchgefühl in der Erziehung, meiner Unterstützung, die ich dem Hund gebe und mein Verständnis für den Hund auf eine wunderbare, wissenschaftlich fundierte Weise. An manchen Stellen zäh und langatmig, sehr wissenschaftlich und gespickt mit Fachbegriffen und Quellenangaben, aber mein Tipp für Menschen, die einfach genauer wissen möchten, warum sich ein Organismus so verhält, wie er sich verhält – Easy Dogs Insidertipp.
VERLAGSINFO:
- Hier kaufen
- Auto: Gülay Ücüncü
- Verlag: KOSMOS Verlag
- Umfang: 272 Seiten
- Produktabmessungen: 14,3 x 2,9 x 22,2 cm
- Sprache: Deutsch
- ISBN: 978-3440153925
- Preis: 19,99 €
ÜBER DIE AUTORIN:
Gülay Ücüncü ist ausgebildete Hundetrainerin und Verhaltensberaterin. Sie schöpft aus über zehnjähriger Berufserfahrung – und kennt aus eigener Erfahrung auch die Perspektive der betroffenen Halterin eines verhaltensauffälligen Hundes.
In ihren Coachings begleitet sie Mensch und Hund mit feinem Blick und viel Empathie durch einen Veränderungsprozess. Klassisches Sitz-Platz-Fuß gibt es hier nicht – wohl aber eine gemeinsame Sprache mit dem Hund. Sie weiß, dass sich die Probleme mit auffälligen Hunden zwar auf unterschiedlichste Weise äußern, die Ursachen jedoch fast immer ähnlich sind. Sie liegen im Spannungsfeld zwischen falsch verstandener Erziehung, mangelnder Selbstbeherrschung, den Ansprüchen der heutigen Zeit und hundlichen Bedürfnissen. Diese Wechselwirkung macht die Hamburgerin ihren Kunden zugänglich und befähigt sie, die Mensch-Hund-Beziehung auf einen ganz neuen Kurs zu bringen.